Wie wir uns die Zumutungen von Natur und Sexus mittels Kunst vom Leib halten: Zwei Schweizer Fotokünstler durch die Brille der amerikanischen Kunsthistorikerin Camille Paglia gesehen.
Schau genauer hin! Dazu fordern uns zwei Schweizer Künstler auf in ihrer gleichnamigen Zürcher Doppelausstellung «Look Closer». Wir sollen sehen, denn Sehen ist Erkennen. Und wir sollen auch erkennen, was da nicht zu sehen ist, was ausgeklammert bleibt oder was ihre Bilder bewusst vor uns verbergen. Till Könneker und Peter Baracchi blickten für uns – auf Natur und Pornografie.
Wie aber ist das mit dem genauen Hinschauen, wenn es um so belastete Begriffe geht? Stets blicken wir doch durch die Brille der Voreingenommenheit. Warum also nicht gleich die Sehhilfe eines Experten in Sachen Natur und Pornografie in Anspruch nehmen? Mangels überzeugender Alternativen oder auch aus rein persönlicher Vorliebe wählen wir die Gläser von Camille Paglia. Die umstrittene amerikanische Kunst- und Kulturhistorikerin vertritt die These, dass Sexualität etwas Dämonisches sei und dass jeder Versuch, dieser ihre Gewaltverhältnisse auszutreiben, sich letztlich gegen die Natur, eine nicht minder dämonische Natur, wende und damit zum Scheitern verurteilt sei.
Und siehe da: Kaum auf der Nase, zoomt Paglias Brille auch schon allerlei Heterogenes auf Till Könnekers Fotografien heran. Der Blick bricht durch Gräser und Halme, dringt zum Erdboden hinab und dort in das Unheimliche der Natur vor, in ihre andere, verborgene Natur sozusagen: Denn im Garten hinter seinem Berner Atelier wurde Könneker auf seiner Suche nach neuen Perspektiven fündig. Und von ganz nah betrachtet, wie er dies mit seiner Serie «Close Encounters» tut, ist die Welt eine andere. Steinchen, verlassene Körperhüllen von Insekten, Pflanzensamen, Wurzeln werden da sichtbar.
Dicht unter der Oberfläche einer Welt also, die unser Gesichtsfeld gewohnheitsmässig zum schön geordneten «Gemälde» arrangiert, verbirgt sich das Chthonische der Natur – ihr Leib mit all seinen Eingeweiden: Schlamm, Morast, Sumpf, eben die ganzen rohen Gegebenheiten von Biologie und Geologie, von Verschwendung und Fäulnis.
Da spult sich vor unserem inneren Auge auch gleich die Eröffnungssequenz von David Lynchs Film «Blue Velvet» ab. Darin erschliesst uns die Kamera die friedvollen Gärten der amerikanischen Suburbs als frivole Brutstätten von Gewürm, Gezücht und Geziefer.
Schmutzige Geheimnisse
Eine gewisse ästhetische Schönheit ist Lynchs Filmszene nicht abzusprechen, und ebenso wenig Könnekers Fotografien. Schliesslich haben wir es mit Kunst zu tun. Und gerade die Kunst erweist sich als ausgesprochen mächtiges Mittel, die Schrecken der Natur in Schönheit zu bannen.
Warum aber empfinden wir Landschaften so oft als schön, wenn selbst die Landschaftsmaler der Romantik vor dem kruden Materialismus einer grausam ungestalten, ungastlichen und gleichgültigen Natur nicht ganz die Augen verschliessen konnten? Man denke bloss an Caspar David Friedrichs «Eismeer». Es ist die rosa Brille des Humanismus rousseauscher Prägung, die uns Landschaften als Garten Eden wahrnehmen lässt. Und zu dieser Kulturleistung hat die Kunst nicht unwesentlich beigetragen: Die Verklärung der Natur durch die Landschaftsmalerei ist eine apollinische Abwehrstrategie gegen deren dämonische Hässlichkeit.
Denn das Schöne der Natur beschränkt sich auf eine dünne Oberfläche. Kratzt man daran wie Till Könneker, droht sich eine ganz andere Natur zu zeigen. Der Künstler bedient sich dafür des Scanners. Dieser tastet die Oberfläche schrittweise ab, je höher die Auflösung, umso länger dauert der Scan-Vorgang, so dass sogar Bewegungen von krabbelnden Käfern oder kriechenden Würmern im Bild registriert werden. Das Fliessende der Natur wird hier festgehalten und dadurch erst sichtbar gemacht, was Könnekers Bildern etwas geradezu Pornografisches verleiht.
Sich von den Zumutungen der Natur, auch unserer ureigenen Natur, ein Bild zu machen, ist etwas, das Kunst und Pornografie gleichermassen leisten.
Seine Bilder offenbaren jedenfalls, wie voyeuristisch heute Kunst auch sein kann, ist ihre Neugierde einmal geweckt für das, was unter dem Deckel des schönen Scheins lauert. Till Könnekers Fotokunst ist gleichsam geleitet vom Interesse am schmutzigen Geheimnis des rousseauschen Naturbegriffs: nämlich der obszönen Wahrheit einer Natur, vor der wir die Augen verschliessen. Ein Zurück zu solcher Natur kann es nicht geben, ohne in Barbarei zu versinken.
Auf ähnliche Abgründe verweisen Peter Baracchis Fotografien. Der Künstler hat zweiminütige Filmsequenzen von Pornofilmen, wie sie sich im Internet zu Tausenden finden, überlappend auf ein Bild reduziert, das seinen Ursprung kaum verrät, dafür aber der Fantasie freien Lauf lässt. Allein der Werktitel «Unprintable Color Space (two minutes of porn)» enthält einen Hinweis auf das Ausgangsmaterial.
So sind nur farbige, sanfte Wolken zu sehen, die fast ein bisschen an die Landschaftsmalerei eines William Turner erinnern. Der Künstler aber will uns Betrachter mit einem gesellschaftlichen Tabu konfrontieren, wie er selber sagt: mit jenem unendlichen virtuellen Raum sexueller Fantasien sozusagen, die unter der Oberfläche gesellschaftlicher Konventionen wirken. Das schmutzige Geheimnis von Baracchis schönem «Naturschauspiel», das gleichsam die menschliche Seelenlandschaft zum Gegenstand hat, ist aber einmal mehr nichts anderes als chthonische, rohe Natur: das Sumpfgebiet des Sexus.
Kunst ist amoralisch
Baracchis Bilder erinnern auch an Thomas Ruffs bekannte «Nudes»: Stills pornografischer Filmszenen, die der deutsche Künstler mit Verwischungen und Unschärfen verfremdet und solcherweise wie durch ein Milchglas wiedergibt. Im Gegensatz zu Ruffs Werken, in welchen pornografisches Bildmaterial gleichsam salonfähig gemacht wird, verklären Baracchis Mixed-Media-Arbeiten aber nichts. Sie zeigen keine Pornografie. Sie bringen vielmehr die Abwehrmechanismen und Verdrängungsstrategien gegen diese Bilderwelt zur Sprache, in der all die archaisch-sexuellen Mythen und Stereotypen fortbestehen, die eine zivilisiert-hochentwickelte und emanzipiert-fortschrittliche Gesellschaft als überwunden glaubt, die aber weder Christentum noch Feminismus je ausrotten konnten.
Was also genau hat es auf sich mit der Pornografie? Was kann sie uns zeigen? Ist sie nicht ihrerseits eine Form von apollinischem Abwehrzauber: nämlich gegen die Dämonie des Sexus? Dies, indem sie all dessen Ungeheuerlichkeiten benennt, in geradezu enzyklopädischer Besessenheit festmacht und zur Darstellung bringt? Sie mag zwar eine Ästhetik der Profanierung pflegen mit viel Lust am Amoralischen, hält uns aber auch ein Spiegel vor, in welchem wir die Natur unserer selbst wiedererkennen.
Und so kommt es einem vor, als ob im Internet der Bilderkult eines längst vergangen geglaubten archaischen Heidentums wiederkehre: als Veto einer Massenkultur sozusagen, die von den Hütern der Hochkultur – dem mächtigen Bollwerk gegen alle Natur –zurückfordert, was diese ausschliessen. Deren Kontrolle hat sich das pornografische Netz als riesiger, kommerzialisierter Resonanzraum eines anonymen Publikumsgeschmacks jedenfalls längst entzogen. Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Bild, möchte man da sagen.
Sich von den Zumutungen der Natur, auch unserer ureigenen Natur, aber ein Bild zu machen, ist etwas, das Kunst und Pornografie gleichermassen leisten. Letztere ist zwar keine Kunst, weil sie das voyeuristische Moment, das aller Kunst eigen ist, isoliert, um das Hässliche und Gewaltsame der Natur in aller Unverblümtheit zu zeigen. Kunst ihrerseits aber weist stets auch pornografische Züge auf, denn ihr Blick ist amoralisch. Das mag eine Erklärung liefern für die unbändige Produktivität von Kunst und die unersättliche Nachfrage nach ihr in unserer so bildmächtigen wie blick-intensiven Zeit.
«Look Closer» ist als Pop-Up-Ausstellung der Galerie Soon in den Räumen der Galerie Barbara Seiler im Löwenbräu-Areal Zürich noch bis am 17. Dezember zu sehen. Die amerikanische Kunsthistorikerin Camille Paglia erlangte internationale Bekanntheit mit ihrem Hauptwerk «Sexual Personae», das 1996 auf Deutsch unter dem Titel «Die Masken der Sexualität» erschien.