Onur Dinc: Maler ohne Maske

Männerzeitung, November 11, 2013

International ist Onur Dinc ein gefragter Künstler. In seiner Schweizer Heimat wird er oft übergangen. Michael von Ins und Daniel Habegger haben den Solothurner mit türkischen Wurzeln in seinem Atelier besucht.

Ein kalter Herbstwind weht uns entgegen, als wir im November 2013 vor der grossen Fabrikhalle in Derendingen stehen. Wir sind auf dem Weg zu Onur. Nirgends weist ein Schild auf den Maler aus Solothurn hin. Im Treppenhaus kommt uns ein grossgewachsener, junger Mann entgegen: «Hey, ich bin Onur. Schön habt ihr mich gefunden. Raucht ihr?» Eine Zigarettenlänge später betreten wir sein Atelier. Ein grosser Raum, überstellt mit angefangenen Bildern, Leinwänden und Farbtöpfen. An der Wand hängen frühere Kunstwerke von Onur. Gleich neben seinem Arbeitsplatz steht ein Tisch mit vier Stühlen. Die herbstliche Abendsonne scheint durch die Fenster. «Nehmt bitte Platz.»

Wir haben Glück, dass sich Onur (34) überhaupt Zeit nehmen kann. Gerade ist er aus Berlin zurück und die nächsten Anfragen stapeln sich bereits. «Endlich habe ich jetzt jemanden, der sich um all das kümmert. Ich habe einfach keine Zeit für den ganzen Büroscheiss. Ich will malen», erklärt er uns. Nach drei Berufslehren hat er sich für die Malerei entschieden. Er hatte die Nase voll, sich die ganze Zeit sagen zu lassen, was er zu tun habe. Während seiner Arbeit als Theatermaler hatte Dinc bereits im Atelier des Theaters alte Leinwände bemalt und einzelne verkauft. Dann kam 2009 eine Einladung für die «Jungkunst’09» in Winterthur. Zusammen mit 14 anderen wurde er aus über 500 Bewerbungen ausgewählt. Das ganze Ersparte wurde in diese Ausstellung investiert. «Damals entstand auch das Porträt von meinem Vater. Ich wollte, dass die Besucher mit meinem Vater konfrontiert werden. Er hielt damals nichts von meinen Plänen mit der Malerei.» Da kein Geld mehr vorhanden war, musste Onur sogar einige gute Freunde um Hilfe bitten, um die Bilder nach Winterthur zu transportieren. Am Eröffnungsabend bekam er einen Anruf vom Organisator, der ihm mitteilte, dass bereits fünf Bilder von ihm verkauft seien. Eine riesige Überraschung. Am nächsten Tag besuchte Onurs Vater die Ausstellung. «Er fragte mich, was die roten Punkte auf den Bildern bedeuten. Ich sagte ihm: Vater, die sind alle verkauft. Da machte es klick bei ihm. Er sagte mir: ‹Cool verdienst du dein Geld damit.›»

Das Porträt des Vaters

Onurs Eltern stammen aus der Türkei. Er selbst ist aber in der Schweiz geboren. «Ich bin mehr Schweizer als Türke. Neben Kool Savas habe ich nur wenige Türken in meinem Freundeskreis.» Seine Familie lebt heute wieder in der Türkei, seine Schwester in Istanbul. Von seinem Vater Yasar bekam Onur am Anfang keine Unterstützung. «Mein Vater ist ein typischer Vertreter der Arbeiterklasse. 40 Jahre lang flickte er Maschinen. Er konnte nicht verstehen, warum ich meinen Job schmiss, um zu malen.» In der vorwiegend türkischen Nachbarschaft wird viel über Onur geredet. Während die Kinder von anderen Familien mit ihrem Jura­ oder Wirtschaftsstudium beschäftigt sind, fährt der junge Dinc mit dreckigen Malerhosen auf seinem Damenfahrrad nach Hause. Sie wussten damals nicht, dass er bereits Bilder malte. Einmal habe sein Vater zu Onur gesagt, wenn es nicht klappe mit der Kunst, 

müsse er nie mehr zurückkommen. Kurz darauf stand Yasar vor seinem Porträt, inmitten der verkauften Bilder seines Sohnes.

Es ist kurz vor sechs. Die letzten Sonnenstrahlen scheinen durch die hohen Fabrikfenster und erhellen das Atelier im warmen Herbstlicht. Die grossflächigen Bilder an der Wand wirken noch eindrücklicher als sonst. Onur trinkt seinen Kaffee und zeigt uns einige Bilder von Künstlern, die er bewundert. Er kommt ins Schwärmen, wenn er Werke von Roa und ETAMCRU betrachtet. Wir werden von Yasar Dincs Portrait beobachtet.

Künstler oder Handwerker?

Onur nennt sich nicht gerne Künstler, er sieht sich viel mehr als Handwerker. «Diese oberflächliche, bonzige Kunstszene ist nichts für mich. Ich würde mich total verstellen, wenn ich im Anzug an einer Ausstellung von mir erscheinen würde.» Lieber geht er nach draussen, um eine Wand zu malen. So wie man in der Schweiz Kunst anschaut, sei er kein Künstler. «Künstler ist eh ein dummes Wort», meint er. In der Schweiz ist die ganze Szene eine Vetternwirtschaft. Man muss zuerst im Ausland erfolgreich sein, bevor man hier Anerkennung erntet. Eigentlich erfüllt Onur diese Anforderung. Projekte in Berlin, Budapest, Lissabon und New York hat er bereits realisiert, viele Wände weltweit tragen seine Bilder. Das gigantische Bild «Fressen und gefressen werden», das Onur zusammen mit anderen Künstlern in Brooklyn, NY an eine Hauswand malte, wurde gerade vom angesehenen US­Magazin «Complex» als beste aktuelle Strassenkunst von New York ausgezeichnet. «Ich bekomme Anfragen aus der ganzen Welt, und in Solothurn bin ich immer noch der, der im Kofmehl Wände sprayt. Dabei spraye ich gar nicht.»

Rap

Die jüngere Generation kennt Onur unter anderem durch den deutschen Rapper Kool Savas. Das ganze Artwork von dessen Erfolgalbum «Aura» wurde von Dinc gestaltet. «Die Geschichte dazu klingt so surreal, niemand glaubt mir, wenn ich sie erzähle.» Onur und Remo (Wes21), ein guter Freund von ihm, fuhren zusammen nach Bern. Im Zug klingelte Remos Handy. Es war Samy Deluxe, der ihn bat, das Cover für sein Album schwarz­weiss zu gestalten. Wenige Minuten später klingelte Onurs iPhone. Am anderen Ende war Kool Savas und fragte ihn, ob er Bock hätte, etwas für sein Artwork zu machen. «Die Leute, die uns belauschten, müssen uns für verrückt gehalten haben.» Onur mochte die Zusammenarbeit mit Savas. «Der Typ wusste, dass ich mehr Ahnung von Malerei hatte, deshalb liess er mich einfach machen. Ab und zu kam er dann in den Keller, um ein bisschen mitzumalen.» Onur hatte nicht nur malerisch, auch musikalisch bereits als Producer mit Kool Savas zu tun. Auch für die Berner Spasscombo «Eldorado FM» produzierte er einige Teile der, mittlerweile über die Stadtgrenzen hinaus bekannten, gratis Mixtapes. Zudem ist er für fast die Hälfte der Beats auf Tommy Vercettis Erfolgsalbum «Seiltänzer» verantwortlich. Hierfür bekam er an der «Slangnacht 2010» sogar den Award als bester Producer. «Seiltänzer» blieb jedoch sein letztes Projekt. Die Musik hat er mittlerweile an den Nagel gehängt.

Seine Bilder sind oft gesellschaftskritisch oder spielen mit Alltagssituationen. Wie zum Beispiel die Skull­Trilogie. Dreimal ein Totenkopf, drei verschiedene Materialien, drei Geschichten, die dahinter stecken. Angefangen hat es mit einem Typ, der für den Solothurner arbeiten sollte. Obwohl er kaum einen Finger rührte, wollte er von Dinc gleichviel Geld wie alle anderen. Onur zahlte nur einen Teil und kassierte dafür fast eine Anzeige. Daraufhin zerschnitt er den Restbetrag in Dollarnoten und klebte daraus den Totenkopf. Die zwei anderen Werke entstanden durch einen Konflikt mit der Steuerbehörde und einem völlig verfälschten Artikel in einer bekannten Schweizer Gratiszeitung. Ein anderes beliebtes Sujet des 34­Jährigen ist der Clown. «Ich male nicht Clowns, weil ich Zirkus Knie geil finde, sondern weil ich finde, dass alle die, die jeden Tag von 9 bis 5 arbeiten, eine Scheiss­Maske anziehen.» Viele Leute haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als Onur seinen Job schmiss, um zu malen. Wenn er jetzt von seinen Reisen erzählt, beneiden sie ihn. Am Montagmorgen gehen sie wieder unzufrieden und genervt zur Arbeit und ziehen ihre Maske an. Onur schätzt diese Freiheit, selbst zu bestimmen, was er als Nächstes tut. Er selbst trägt keine Maske. Eigentlich sind ihm Clowns sympathisch. Doch auf seinen grossflächigen Werken sieht er sie als Rollen, in die der Mensch im Alltag schlüpft, als Maske der Gesellschaft. Für ihn ist die Aussage hinter den Bildern entscheidend. Früher achtete er mehr auf die visuelle Wirkung, heute liegt der 

Schwerpunkt auf dem Konzept. Ausserdem möchte er nicht in eine Schublade gesteckt werden. «Was Kunst und was Street Art ist, entscheiden heute einzig und allein Museen und Galerien. Das ist lächerlich.» Onur hat seine eigene Linie. Für ihn zählt, dass der Betrachter die Botschaft hinter den Bildern erkennt. Er möchte unabhängig bleiben.

Wir schauen auf die Uhr. Zwei Stunden lang hat uns Onur Dinc aus seinem spannenden Leben erzählt. «Jungs, ich muss jetzt mal nach Hause und ein bisschen chillen. Morgen geht’s wieder los.»

Wieviel Zeit braucht es wohl noch, bis auch die lokale Kunstszene das Potential und das Talent des jungen Solothurners erkennt? Schwer beeindruckt verlassen wir das Atelier und verabschieden uns von Onur, der trotz seines Erfolges immer noch am Boden geblieben ist. Der kalte Herbstwind empfängt uns.