Das Virus, dein Feind und Helfer

Helen Lagger, Berne Zeitung BZ, Oktober 28, 2020

Mit Maske betreten wir den Eingangsbereich der Sitem-Insel AG. Gut so, denn hier gibt es jede Menge Viren. Zumindest auf Papier. Zwei riesige Papierbahnen hängen von der Decke. Darauf aufgelistet sind alle bisher bekannten Erreger. Es ist eine Arbeit der taiwanischen Künstlerin Pei-Ying Lin. «Virophilia und Virus» heisst die aktuelle Ausstellung, die in einer Zusammenarbeit zwischen der Berner Galerie Soon und dem Symbiont Space, einem Kunstraum in Basel, entstanden ist. «Wir wollen  zeigen, dass Kunst und Forschung sich gegenseitig bereichern können», so Fabian Schmid (34) von der Galerie Soon.

 

«Virophilia und Virus» ist bereits das zweite Kunstprojekt der Galerie Soon, das in der Sitem-Insel, dem ersten nationalen Kompetenzzentrum für Translationale Medizin und Unternehmertum, realisiert wurde. Kurator und Wissenschaftsjournalist Roland Fischer (46), der den Kunstraum Symbiont Space betreibt, hat eine Carte blanche bekommen. Mit der Künstlerin Pei- Ying Lin präsentiert er laut eigener Aussage «die Virenexpertin unter den zeitgenössischen Kunstschaffenden». 

 

Corona statt «Mona Lisa» 

Wie kann man sich selbst Viren zuführen? Sind alle Viren böse? Solchen Fragen geht die 1986 in Taiwan geborene und in den Niederlanden lebende Künstlerin und Designerin nach. Ihr Projekt «Virophilia» besteht aus einem Kochbuch, einer Videoinstallation und Performances, in denen gegessen wird. In einer Videoarbeit sitzt die Künstlerin am Tisch und isst das selbst kreierte "Influenza Egg on rice». Erster Schritt: Öffne vorsichtig ein Ei, welches das Grippevirus enthält, das auch als Impfung bekannt ist. «Das Ganze ist natürlich reine Fantasie oder allenfalls eine Zukunftsspekulation», erklärt Fischer.

 

Viren als Freund und Helfer?

«Die letzten 150 Jahre hatte der Mensch einen infektiologischen Blick auf die Viren», so Roland Fischer. «Wir sind immer davon ausgegangen, dass ein Virus von uns Besitz ergreift und uns krank macht.» Dabei kämen sehr viele Viren diskret zu Besuch, seien harmlos oder möglicherweise sogar von Nutzen für den Menschen. Zu einer Zeit, in der die ganze Welt durch das Coronavirus bedroht wird, fällt es allerdings etwas schwer, die Viren als «die symbiotischsten Wesen überhaupt», zu betrachten, wie Fischer es ausdrückt. Eine zynische Schau? Er verstehe Kunst als «Sand im Getriebe» der Wissenschaft, sagt Fischer. Sie habe die Fähigkeit, ein Narrativ – hier jenes vom Virus als Feind – zu hinterfragen. Ganz ohne das krank machende Coronavirus kommt «Virophilia und Virus» dann doch nicht aus. Fischer präsentiert parallel zum Projekt von Pei-Ying Lin eine «Ikonografie des Virus» und hat dabei etwas gar plakativ verschiedene grafische Darstellungen von Viren in goldene Rahmen setzen lassen. Corona statt «Mona Lisa» hängt hier als Ikone an der Wand. Bei Darstellungen von Viren ginge es stets darum, das Unsichtbare darzustellen, so Fischer. Dabei seien sowohl die taktilen Oberflächen wie auch die gewählten Farben reine Fantasie. Fischer erwähnt in seiner Petersburger Hängung die Namen der Grafikerinnen und Grafiker, die das jeweilige Virus dargestellt haben. Alissa Eckert etwa habe mit ihren Darstellungen von Viren unsere Vorstellung von Covid geprägt. Sie hat früher bei Pixar gearbeitet. «Vielleicht sieht das Virus deshalb wie aus einem Animationsfilm entsprungen aus», so Fischer. 

 

Ausstellung: Bis am 27.11.2020, Sitem-Insel, Freiburgstrasse 3, Bern.