Viren sind nicht nur unsere Feinde

Celine Graf, Der Kleine Bund, Bern, November 4, 2020

Für Sie als Wissenschaftler

zunächst eine Definitionsfrage:

Sie stellen im Inselspital sogenannte

Bio-Art aus. Was ist das

für eine Kunstgattung?

Bio-Art-Künstler arbeiten mit lebendiger

Materie, oft Mikroorganismen.

Sie versuchen, ihre Werke

mit naturwissenschaftlichen

Mitteln zu schaffen, etwa aus der

Biotechnologie. Aktiv sind da besonders

junge Künstlerinnen und

Künstler. Viele reagieren auf Entwicklungen

in der Forschung, die

ihnen interessant erscheinen,

aber in der Öffentlichkeit nicht

immer grosse Aufmerksamkeit

bekommen.

Bringen Bio-Art-Künstler einen

naturwissenschaftlichen Hintergrund

mit?

Es gibt einige, die eine Forscherkarriere

abgebrochen haben. Sie

eckten an und gingen in die

Kunst, um mehr Freiheiten zu

haben. Andere sind keine Wissenschaftler,

wissen aber extrem

viel über diese Themen. So auch

Pei-Ying Lin, von der wir in Bern

eine Arbeit zeigen. Sie ist die Virenspezialistin

unter den Bio-

Art-Künstlerinnen.

Zum Fressen gern sogar hat Lin

die Viren, wie sie in «Virophilia»

demonstriert. In den Texten des

Werks wird erklärt, wie Viren

im Körper, in den sie eindringen,

funktionieren. Die Künstlerin

spielt also Biolehrerin?

Das auch, aber sie hinterfragt vor

allem unsere übliche Beziehung

zu Viren. Es ist nämlich so, dass

Viren nicht nur Feinde sind und

uns krank machen, sondern auch

in Symbiose mit dem Menschen

leben. Eine Studie der Universität

Utah hat ermittelt, dass rund

acht Prozent des menschlichen

Erbguts viralen Ursprungs sind.

Ein Beispiel: Das Protein Syncytin,

das verantwortlich dafür ist,

dass sich das Kind in der Gebärmutter

einnisten kann, wird von

einem Gen hergestellt, welches

irgendwann in der Evolution

durch ein Virus in die menschliche

DNA gelangt ist. Dass Lin

sagt, Viren seien unsere Freunde,

ist aber natürlich ihre spekulative

Schlussfolgerung der Fakten.

Am Ausstellungsort im Inselspital

wären die Fachleute

direkt vor Ihrer Nase. Lassen

Sie diese im künstlerischen

Diskurs noch selbst zu Wort

kommen?

Ja, geplant war ein Podium mit

Expertinnen und Experten aus

der Infektiologie. Sie reagierten

sehr interessiert auf die Frage,

ob Virus und Mensch auch

Freunde sein könnten. Wegen

der Pandemie fällt der Anlass

aber aus.

Das Coronavirus muss man in

der Ausstellung suchen. Es

hängt in einer Galerie zwischen

anderen Viren. Keine

Extra-Ecke für das Virus,

das grad die Welt erschüttert

- warum?

Ich finde die klaren Visualisierungen

des Coronavirus, von

dem es keine scharfen Aufnahmen

gibt, bemerkenswert. Noch

vor einem Jahr konnten die wenigsten

ein Virus zeichnen, jetzt

sehen wir überall dieses sonnenähnliche

Gebilde. Wir scheinen

uns unbewusst auf so etwas wie

eine Virus-Ikonografie geeinigt

zu haben.

Corona wird trotzdem stiefmütterlich

behandelt, gemessen

an seiner Relevanz. Haben

Sie gar nicht im aktuellen

Strom von Corona-Kunst gefischt?

Das habe ich tatsächlich gemieden.

Von der zeitgenössischen

Kunst erwarte ich im Moment

nicht spannende Antworten auf

die Krise. Wenn sich Künstler

dazu gedrängt fühlen, etwas über

Corona zu machen, dann gibt es

Reflexe, keine Reflektionen. Die

Auseinandersetzung mit Corona

wird Zeit brauchen.

Oder sind Sie überfordert von

der Masse an Material?

Was die Komplexität des Themas

Corona angeht: ja. Es wäre mir

schwergefallen, mich auf spezifische

Aspekte zu beschränken.

Was glauben Sie, wer wird mehr

zur Meisterung dieser Krise

beigetragen haben: die Kunst

oder die Wissenschaft?

Uff... Kurzfristig wohl die Wissenschaft.

Klar hoffen wir alle

auf einen Impfstoff. Es gibt zwar

Bio-Artists, die einen Do-ityourself-

Impfstoff entwickeln,

aber ich glaube nicht, dass es die

Aufgabe der Kunst ist, die bessere

Wissenschaft zu sein. Doch

längerfristig hat die Kunst da

unbedingt auch eine Rolle zu

spielen. Sie schaut, wie wir als

Gesellschaft mit der Krise umgegangen

sind, verhandelt Narrative.

Und sie spendet - hoffentlich

- Trost.

 

Viren-Kunst im Inselspital

Die unsichtbare Gefahr ist im

hellen, hohen Spitalfoyer auf

Gemäldegrösse aufgeblasen,

bunt, goldgerahmt, und sie trägt

Beinamen wie zaristische Eroberer

(«Der Schreckliche»). In

einem Video gegenüber der

Virus-Ehrengalerie ist zu sehen,

wie eine Frau einen Teller mit

Reis, Ei und – laut Beschreibung

– «Influenza» isst. Ist die verrückt,

sich absichtlich Krankheitserreger

einzuverleiben?

Natürlich ein Bluff, aber die

Botschaft ist ernst gemeint. Die

taiwanesische Künstlerin Pei-

Ying Lin untersucht seit 2018

Symbiosen von Virus und

Mensch in ihrer Arbeit «Virophilia

». Diese umfasst ein Video, ein

Kochbuch, eine Liste der bisher

entdeckten Viren und Live-Performances,

in denen die Künstlerin

mit dem Publikum diniert. Mit

den Makro-Visualisierungen von

Viren und Lins Installation bespielt

die Galerie Soon ihre

zweite Pop-up-Ausstellung im

neuen Sitem-Zentrum des Inselspitals.

Der Kurator dieser Ausstellung,

Roland Fischer, leitet

den Kunstraum Symbiont Space

in Basel, ist Wissenschaftsjournalist

und hat interdisziplinäre

Naturwissenschaften an der ETH

studiert. (cgr)

Ausstellung im Foyer des Instituts

für translationale und unternehmerische

Medizin (Sitem-Insel AG,

Freiburgstrasse 3, Bern), bis 27.

November