Für Sie als Wissenschaftler
zunächst eine Definitionsfrage:
Sie stellen im Inselspital sogenannte
Bio-Art aus. Was ist das
für eine Kunstgattung?
Bio-Art-Künstler arbeiten mit lebendiger
Materie, oft Mikroorganismen.
Sie versuchen, ihre Werke
mit naturwissenschaftlichen
Mitteln zu schaffen, etwa aus der
Biotechnologie. Aktiv sind da besonders
junge Künstlerinnen und
Künstler. Viele reagieren auf Entwicklungen
in der Forschung, die
ihnen interessant erscheinen,
aber in der Öffentlichkeit nicht
immer grosse Aufmerksamkeit
bekommen.
Bringen Bio-Art-Künstler einen
naturwissenschaftlichen Hintergrund
mit?
Es gibt einige, die eine Forscherkarriere
abgebrochen haben. Sie
eckten an und gingen in die
Kunst, um mehr Freiheiten zu
haben. Andere sind keine Wissenschaftler,
wissen aber extrem
viel über diese Themen. So auch
Pei-Ying Lin, von der wir in Bern
eine Arbeit zeigen. Sie ist die Virenspezialistin
unter den Bio-
Art-Künstlerinnen.
Zum Fressen gern sogar hat Lin
die Viren, wie sie in «Virophilia»
demonstriert. In den Texten des
Werks wird erklärt, wie Viren
im Körper, in den sie eindringen,
funktionieren. Die Künstlerin
spielt also Biolehrerin?
Das auch, aber sie hinterfragt vor
allem unsere übliche Beziehung
zu Viren. Es ist nämlich so, dass
Viren nicht nur Feinde sind und
uns krank machen, sondern auch
in Symbiose mit dem Menschen
leben. Eine Studie der Universität
Utah hat ermittelt, dass rund
acht Prozent des menschlichen
Erbguts viralen Ursprungs sind.
Ein Beispiel: Das Protein Syncytin,
das verantwortlich dafür ist,
dass sich das Kind in der Gebärmutter
einnisten kann, wird von
einem Gen hergestellt, welches
irgendwann in der Evolution
durch ein Virus in die menschliche
DNA gelangt ist. Dass Lin
sagt, Viren seien unsere Freunde,
ist aber natürlich ihre spekulative
Schlussfolgerung der Fakten.
Am Ausstellungsort im Inselspital
wären die Fachleute
direkt vor Ihrer Nase. Lassen
Sie diese im künstlerischen
Diskurs noch selbst zu Wort
kommen?
Ja, geplant war ein Podium mit
Expertinnen und Experten aus
der Infektiologie. Sie reagierten
sehr interessiert auf die Frage,
ob Virus und Mensch auch
Freunde sein könnten. Wegen
der Pandemie fällt der Anlass
aber aus.
Das Coronavirus muss man in
der Ausstellung suchen. Es
hängt in einer Galerie zwischen
anderen Viren. Keine
Extra-Ecke für das Virus,
das grad die Welt erschüttert
- warum?
Ich finde die klaren Visualisierungen
des Coronavirus, von
dem es keine scharfen Aufnahmen
gibt, bemerkenswert. Noch
vor einem Jahr konnten die wenigsten
ein Virus zeichnen, jetzt
sehen wir überall dieses sonnenähnliche
Gebilde. Wir scheinen
uns unbewusst auf so etwas wie
eine Virus-Ikonografie geeinigt
zu haben.
Corona wird trotzdem stiefmütterlich
behandelt, gemessen
an seiner Relevanz. Haben
Sie gar nicht im aktuellen
Strom von Corona-Kunst gefischt?
Das habe ich tatsächlich gemieden.
Von der zeitgenössischen
Kunst erwarte ich im Moment
nicht spannende Antworten auf
die Krise. Wenn sich Künstler
dazu gedrängt fühlen, etwas über
Corona zu machen, dann gibt es
Reflexe, keine Reflektionen. Die
Auseinandersetzung mit Corona
wird Zeit brauchen.
Oder sind Sie überfordert von
der Masse an Material?
Was die Komplexität des Themas
Corona angeht: ja. Es wäre mir
schwergefallen, mich auf spezifische
Aspekte zu beschränken.
Was glauben Sie, wer wird mehr
zur Meisterung dieser Krise
beigetragen haben: die Kunst
oder die Wissenschaft?
Uff... Kurzfristig wohl die Wissenschaft.
Klar hoffen wir alle
auf einen Impfstoff. Es gibt zwar
Bio-Artists, die einen Do-ityourself-
Impfstoff entwickeln,
aber ich glaube nicht, dass es die
Aufgabe der Kunst ist, die bessere
Wissenschaft zu sein. Doch
längerfristig hat die Kunst da
unbedingt auch eine Rolle zu
spielen. Sie schaut, wie wir als
Gesellschaft mit der Krise umgegangen
sind, verhandelt Narrative.
Und sie spendet - hoffentlich
- Trost.
Viren-Kunst im Inselspital
Die unsichtbare Gefahr ist im
hellen, hohen Spitalfoyer auf
Gemäldegrösse aufgeblasen,
bunt, goldgerahmt, und sie trägt
Beinamen wie zaristische Eroberer
(«Der Schreckliche»). In
einem Video gegenüber der
Virus-Ehrengalerie ist zu sehen,
wie eine Frau einen Teller mit
Reis, Ei und – laut Beschreibung
– «Influenza» isst. Ist die verrückt,
sich absichtlich Krankheitserreger
einzuverleiben?
Natürlich ein Bluff, aber die
Botschaft ist ernst gemeint. Die
taiwanesische Künstlerin Pei-
Ying Lin untersucht seit 2018
Symbiosen von Virus und
Mensch in ihrer Arbeit «Virophilia
». Diese umfasst ein Video, ein
Kochbuch, eine Liste der bisher
entdeckten Viren und Live-Performances,
in denen die Künstlerin
mit dem Publikum diniert. Mit
den Makro-Visualisierungen von
Viren und Lins Installation bespielt
die Galerie Soon ihre
zweite Pop-up-Ausstellung im
neuen Sitem-Zentrum des Inselspitals.
Der Kurator dieser Ausstellung,
Roland Fischer, leitet
den Kunstraum Symbiont Space
in Basel, ist Wissenschaftsjournalist
und hat interdisziplinäre
Naturwissenschaften an der ETH
studiert. (cgr)
Ausstellung im Foyer des Instituts
für translationale und unternehmerische
Medizin (Sitem-Insel AG,
Freiburgstrasse 3, Bern), bis 27.
November